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Liebe ist eine uralte Kraft, die einmal einem sinnvollen Zweck diente, aber für das Überleben der Spezies nicht mehr notwendig ist.
Bene-Gesserit-Axiom
Leto blickte die Klippe hinab und sah die Hauswache, die wie von ihm befohlen auf dem Strand Aufstellung bezogen hatte. Einen Grund hatte er den Männern nicht genannt. Besorgt über die geistige Verfassung des Herzogs hatten Gurney, Thufir und Duncan ihn wie Atreides-Falken beobachtet, aber Leto wusste, wie er sie ablenken konnte.
Die goldene Sonne stand hoch am klaren blauen Himmel, und doch hing ein Schatten über ihm. Der Herzog trug ein kurzärmeliges weißes Hemd und blaue Latzhosen – bequeme Kleidung ohne Zeichen seines Amtes. Er holte tief Luft und starrte nach draußen. Vielleicht konnte er für einen Moment einfach nur ein Mensch sein.
Jessica kam zu ihm geeilt. Sie hatte einen knappen Sportanzug angelegt. »Worüber denken Sie nach, Mylord?« Ihr Gesicht zeigte tiefe Besorgnis, als befürchtete sie, er könnte sich genauso wie Kailea in den Tod stürzen. Vielleicht hatte Hawat sie zu ihm geschickt, damit sie ihn im Auge behielt.
Leto blickte auf die Gruppe seiner Männer am Strand und lächelte matt. Zweifellos würden sie versuchen, ihn mit den Armen aufzufangen, falls er von der Klippe stürzen sollte.
»Ich beschäftige die Männer, damit sie abgelenkt sind und ich mich davonstehlen kann.« Er betrachtete ihr hübsches Gesicht. Als Bene Gesserit würde sich Jessica nicht ohne weiteres hinters Licht führen lassen. Er wollte es gar nicht erst versuchen. »Ich habe genug von Gesprächen, Ratschlägen und Nötigungen ... Ich muss an einen Ort gehen, wo ich meine Ruhe habe.«
Sie berührte seinen Arm.
»Wenn ich sie nicht beschäftige«, sagte er, »werden sie darauf bestehen, dass ich von einem Wachtrupp begleitet werde.« Unten drillte Duncan die Soldaten in Techniken, die er an der Schule von Ginaz gelernt hatte. Leto wandte sich ab. »Jetzt kann ich ihnen vielleicht entkommen.«
»Aha? Und wohin gehen wir?«, fragte Jessica ohne Unsicherheit. Leto blickte sie stirnrunzelnd an, aber sie fiel ihm ins Wort, bevor er Einwände gegen ihre Anwesenheit erheben konnte. »Mylord, ich werde nicht zulassen, dass Sie allein gehen. Was wäre Ihnen lieber – ein kompletter Wachtrupp oder nur ich?«
Er dachte über ihre Worte nach und deutete mit einem Seufzer auf die grünen Dächer der Thopter-Hangars neben dem Landefeld. »Ich denke, gegen dich spricht weniger als gegen eine Armee.«
Jessica folgte ihm über das trockene Gras. Sein Kummer hatte sich immer noch nicht verflüchtigt. Dass er das Angebot eines Ghola von Victor auch nur in Erwägung gezogen hatte, bewies, wie weit sein Wahnsinn bereits fortgeschritten war. Doch letztlich hatte Leto die richtige Entscheidung getroffen.
Sie hoffte, dass es der erste Schritt zu seiner Gesundung war.
Im Hangargebäude standen mehrere Ornithopter, deren Motorabdeckungen zum Teil geöffnet waren. Auf Suspensorplattformen arbeiteten Techniker an den Maschinen. Leto lief zielstrebig zu einem grün gestrichenen Thopter mit roten Atreides-Falken auf den Unterseiten der Flügel. Das niedrige Gefährt verfügte über ein zweisitziges Cockpit, in dem Pilot und Passagier Rücken an Rücken saßen – statt neben- oder hintereinander.
Ein Mann in grauem Overall steckte mit dem Kopf im Motorraum und blickte auf, als sich der Herzog näherte. »Ich muss nur noch ein paar Schrauben festziehen, Mylord.« Seine Oberlippe war rasiert, doch ansonsten war sein Gesicht mit einem silbergrau gescheckten Bart bedeckt, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Affen verlieh.
»Danke, Keno.« Gedankenverloren strich Leto über die Hülle des schlanken Fluggefährts. »Der Rennthopter meines Vaters«, sagte er zu Jessica. »Er nannte ihn Grüner Falke. Mit ihm habe ich fliegen gelernt und Loopings, Rollen und Sturzflüge geübt.« Er lächelte wehmütig. »Thufir war jedes Mal völlig aus dem Häuschen, wenn er sah, wie der Herzog und sein einziger Erbe sich solchen Gefahren aussetzten. Ich glaube, mein Vater hat es nur gemacht, um ihn zu ärgern.«
Jessica betrachtete den ungewöhnlichen Thopter. Die Flügel waren schmal und bogen sich nach oben, die Nase war in zwei aerodynamische Rundungen geteilt. Der Techniker beendete seine Arbeit und schloss die Motorabdeckung. »Er ist startbereit, Herr.«
Nachdem er Jessica in den hinteren Sitz geholfen hatte, stieg Herzog Leto auf den Pilotensessel. Sicherheitsgurte legten sich um die beiden Insassen. Die Turbinen liefen summend an, dann ließ er den Thopter aus dem Hangar auf eine breite Asphaltfläche rollen. Keno winkte ihnen zu. Warmer Wind zerrte an Jessicas Haar, bis die Cockpit-Abdeckung aus Plexplaz zuglitt.
Leto kümmerte sich nicht mehr um Jessica, sondern hantierte emsig und geschickt mit den Kontrollen und konzentrierte sich ganz auf die Startvorbereitungen. Die Segmente der grünen Flügel schoben sich ineinander und verringerten für den Start die Tragfläche. Die Turbinen heulten auf und hoben den Thopter mit Düsenkraft senkrecht nach oben.
Leto fuhr die Flügel wieder aus und drehte scharf nach links ab, um im Tiefflug über den Strand zu rasen, wo seine Soldaten in Reih und Glied warteten. Verdutzt blickten sie zu ihrem Herzog auf.
»Sie werden beobachten, wie wir nördlich die Küstenlinie entlangfliegen«, rief Leto Jessica zu, »aber wenn wir außer Sicht sind, fliege ich nach Westen weiter. Dann finden sie uns nie wieder.«
»Wir werden ganz allein sein.« Jessica hoffte, dass sich die Stimmung des Herzogs während dieses Ausflugs in die Wildnis besserte, aber sie würde in jedem Fall bei ihm bleiben.
»Ich fühle mich immer allein«, erwiderte Leto.
Der Ornithopter drehte ab und überflog Reisanbauflächen und kleine Farmgebäude. Die Flügel erreichten ihre volle Segelspannweite und schlugen träge wie die Schwingen eines großen Vogels. Unter ihnen lagen Obstgärten, der schmale Syubi-Fluss und ein bescheidener Berg mit dem gleichen Namen – die höchste Erhebung dieser Ebene.
Sie flogen während des ganzen Nachmittags in westlicher Richtung weiter, ohne einem anderen Fluggefährt zu begegnen. Die Landschaft veränderte sich und wurde unebener und bergiger. Nachdem sie ein Dorf an einem hochgelegenen See gesichtet hatten, studierte Leto die Instrumente und änderte den Kurs. Bald machten die Berge Grasebenen mit tiefen Schluchten Platz. Schließlich verkürzte Leto die Flügel und bog scharf nach rechts ab, um in ein tiefes Flusstal einzutauchen.
»Die Agamemnon-Schlucht«, sagte Leto. »Siehst du die Terrassen?« Er zeigte darauf. »Sie wurden von caladanischen Ureinwohnern angelegt, deren Nachfahren immer noch hier leben. Sie haben nur wenig Kontakt zu Fremden.« Jessica starrte angestrengt, bis sie einen braunhäutigen Mann mit schmalem, dunklem Gesicht entdeckte, der hastig in einer Felshöhle verschwand.
Leto entfernte sich von der Schluchtwand und ging tiefer. Im nachlassenden Tageslicht kreisten sie über einem breiten Fluss mit weißen Schaumkronen, der sich durch das schmale, gewundene Tal schlängelte. »Es ist wunderschön«, sagte Jessica.
In einem Ausläufer der Schlucht war das Wasser ruhiger und wurde von einem cremefarbenen Sandstrand gesäumt. Mit eingezogenen Flügeln setzte der Ornithopter sanft auf. »Mein Vater und ich haben hier oft geangelt.« Leto öffnete eine Luke an der Seite des Thopters und holte ein geräumiges Zelt hervor, das sich selbst aufbaute und zur Stabilisierung Heringe in den Sand schoss. Sie legten eine Luftmatratze und einen doppelten Schlafsack aus und brachten ihr Gepäck und den Proviant hinein.
Eine Zeit lang saßen sie zusammen am Flussufer und unterhielten sich, während die Schatten des Spätnachmittags in der Schlucht immer dunkler wurden und die Temperatur sank. Sie rückten näher zusammen, und Jessica legte ihr bronzefarbenes Haar auf seine Schulter. Große Fische, die flussaufwärts gegen die Strömung schwammen, sprangen aus dem Wasser.
Leto verfiel wieder in bedrücktes Schweigen, worauf Jessica ihm in die rauchgrauen Augen blickte. Als sie spürte, wie sich seine Hände verspannten, gab sie ihm einen langen Kuss.
Trotz ihrer strengen Ausbildung in der Schwesternschaft, trotz aller Ermahnungen Mohiams und trotz ihrer besten Absichten war sich Jessica bewusst, dass sie eine der wichtigsten Regeln der Bene Gesserit verletzte. Sie hatte tatsächlich zugelassen, dass sie sich in diesen Mann verliebte.
Sie hielten sich in den Armen, und Leto starrte lange auf den Fluss hinaus. »Ich habe immer noch Alpträume«, sagte er. »Ich sehe Victor, Rhombur ... das Feuer.« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Ich dachte, hier draußen hätte ich Ruhe vor den Geistern.« Er sah Jessica mit leerem Blick an. »Ich hätte dir nicht erlauben sollen, mich zu begleiten.«
Windböen pfiffen durch die Schlucht und zerrten am Zeltstoff. Dichte Wolken schoben sich über den Himmel. »Wir sollten lieber hineingehen, bevor das Unwetter losbricht.« Er lief zum Thopter, um die Luke zu schließen, und als er zurückkehrte, setzte bereits ein heftiger Regen ein. Sie konnten gerade noch verhindern, klitschnass zu werden.
Im Zelt gönnten sie sich eine warme Essensration. Als sich Leto später immer noch mit bedrückter Miene auf den Schlafsack legte, kam Jessica zu ihm und küsste seinen Hals. Draußen wurde der Sturm immer lauter und rüttelte wild am Zelt. Trotzdem fühlte sich Jessica sicher und warm.
Als sie sich in dieser stürmischen Nacht liebten, klammerte sich Leto verzweifelt an sie – wie ein Ertrinkender, der sich an einem Floß festhält und hoffte, eine sichere Insel zu erreichen. Jessica erschrak über seine Heftigkeit und fühlte sich von seiner Leidenschaft überwältigt. Er war genauso unbeherrscht und gewaltig wie der Sturm.
Auf so etwas hatte die Schwesternschaft sie nie vorbereitet.
Von ihren Gefühlen zerrissen, aber fest entschlossen, machte Jessica ihm schließlich das kostbarste Geschenk, das sie noch aufzubieten hatte. Sie manipulierte ihre Biochemie und stellte sich bildlich vor, wie sein Same und ihre Eizelle verschmolzen, wie sie ein Kind von ihm empfing.
Obwohl sie die eindeutige Anweisung von den Bene Gesserit erhalten hatte, nur eine Tochter mit Leto zu zeugen, hatte Jessica monatelang nachgedacht und diese bedeutende Entscheidung immer wieder hinausgeschoben. Schließlich war sie zur Erkenntnis gelangt, dass sie Letos Qualen nicht länger mit ansehen wollte. Sie musste es einfach für ihn tun.
Herzog Leto Atreides würde Vater eines weiteren Sohnes werden.